„Ohne Gips kein Haus“: Dreiste Lobbylüge rollt durch Niedersachsen – ein KOMMENTAR

Durch | Oktober 29, 2025

Wer offenen Auges in den Landkreisen Goslar und Göttingen unterwegs ist, dem wird des Öfteren ein Slogan aufgefallen sein, der in großen Lettern auf diversen Lastkraftwagen prangt: „Ohne Gips kein Haus“ ist da zu lesen. Nur: Wie viel Wahrheit steckt darin?

Vom Naturschutzgebiet zum Abraum: Steinbruch bei Ührde. Credits: Pugnalom
Ehemaliges Naturschutzgebiet Bergbau bei Ührde Credits Pugnalom

Absolut keine. Es handelt sich um eine dreiste Marketinglüge der Rohstoffindustrie, die in Südniedersachsen praktisch unbescholten eine europaweit einzigartige Landschaft zerstört: den Gipskarst.

Im Folgenden listen wir die Fakten auf, die den Slogan entlarven: als Desinformation auf Rädern, welche die historische Wahrheit, die technischen Alternativen und die dramatische Umweltzerstörung unter den Teppich kehrt.

Erstens: Historisch falsch.

Über 95 Prozent aller Häuser Europas – von der Steinzeit bis ins 19. Jahrhundert – wurden ohne ein Gramm Gips gebaut. In der Steinzeit errichteten die Menschen Hütten und Pfahlbauten und verwendeten hierfür Holz, Lehm, Schilf und Stein. In der Stein- und Eisenzeit wurden Rund- und Langhäuser mittels Holzgerüst errichtet, die Wände mit Lehm ausgefacht und die Dächer mit Stroh gedeckt. Die Römer schließlich verwendeten zusätzlich zu Bruchsteinen Ziegel und Mörtel, letzterer bestand aus Kalk und Sand; in Luxusbauten verwendeten sie Gips für zierende Elemente. Auch im Mittelalter setzten die Bauleute auf Holz, Lehm, Bruchsteine und Kalkmörtel, und nur in Klöstern, Schlössern und Kirchen fand Gips punktuell Verwendung; in den späteren Jahrhunderten baute man mit Ziegelsteinen und verputzte mit Lehm und Kalk. Erst mit der Industrialisierung gewann Gips an Bedeutung: Neben Beton und Stahl wurde zunehmend Gipsputz eingesetzt.

Gips ist also kein tragendes Baumaterial, sondern lediglich ein entbehrliches Komfortmedium für glatte Wände und Decken, für Stuck und andere Zierelemente.

Zweitens: Technisch entbehrlich.

Gips dient heute in erster Linie der Ersparnis von Zeit und Aufwand: als Trockenbauplatten und als schneller Innenputz. Dabei gibt es bewährte und verfügbare Alternativen wie den Lehmputz, der Feuchtigkeit reguliert oder den Kalkputz, der für seine antibakterielle Wirkung geschätzt ist. Auch können Wände mit Holz verkleidet werden, mit Stroh-Lehm-Systemen, oder sogar als Sichtmauerwerk oder Sichtbeton unbedeckt bleiben.

Thomas Bremer, geschäftsführender Gesellschafter der VG-Orth GmbH, die in Stadtoldendorf zwei Gips-Fabriken betreibt, hatte auf dem niedersächsischen Rohstofftag vor vier Jahren behauptet, dass es „ohne Gips kein Windkraftwerk“ gäbe. In dem Fundament eines gewöhnlichen Windkraftwerks würden sich etwa elf Tonnen Gips befinden; zudem wäre Gips als leichter Baustoff für die Aufstockung von Wohngebäuden quasi unverzichtbar. Weit gefehlt, denn schon damals wäre Gips durch Kalk, Flugasche oder andere Mineralien ersetzbar gewesen. Die Behauptung ist technischer Unsinn, instrumentalisiert für Lobbyzwecke.

Gips ist in Deutschland billig – viel zu billig – zu haben, doch die Rendite für die Konzerne ist ausgezeichnet. Nicht umsonst gilt er dort, wo er vorkommt (vor allem in den einmaligen Gipskarstlandschaften Niedersachsens, Thüringens und Sachsen-Anhalts) als „weißes Gold“. Offiziell zugängliche Zahlen sind erwartungsgemäß nicht zugänglich, aber eine grobe Schätzung anhand ähnlicher Rohstoffe ist durchaus möglich. Bei Kalkstein und Schotter belaufen sich die Abbau- und Verarbeitungskosten auf zehn bis 30 Euro je Tonne; Gips ist aber erheblich weicher (Mohs-Härte 2) und damit leichter förder- und verarbeitbar – damit dürfte er kostenmäßig noch darunter liegen. Der Verkaufspreis von Gips wiederum wird je nach Reinheitsgrad zwischen 50 und 100 US-Dollar gehandelt. Endprodukte wie Gipskartonplatten, Gipsputze oder Alabastergips für Freizeit und Hobby sind exorbitant teurer. So beläuft sich der Quadratmeterpreis von Gipskartonplatten auf drei bis fünf Euro, was zwischen 200 und 400 Euro je Tonne Gipsäquivalent ausmacht. Ein weiteres Beispiel: Alabastergips für schöpferische Arbeiten schlägt mit mindestens 1 Euro pro Kilogramm zu Buche – das sind dann 1.000 Euro je Tonne.

Für die Zerstörung von Naturschutz- und FFH-Gebieten müssen die rohstoffabbauenden Firmen (Knauf/Rumpf & Salzmann, Saint Gobain, CASEA, VG-Orth) übrigens keinerlei Kosten fürchten – sie bekommen die Gebiete auf dem Silbertablett präsentiert.

Drittens: Ökologisch verheerend.

Der Abbau von Gips, Dolomit und Anhydrit verwandelt den einzigartigen Gipskarst mit zahlreichen geschützten Arten (darunter 16 Fledermausarten) und einer 10.000 Jahre alten Natur in eine mondartige Kraterlandschaft. Infolge des Abbaus gehen unwiederbringlich Biotope verloren. Die angebliche „Renaturierung“ ist Schönfärberei: Die Rohstoffindustrie modelliert künstlich nach, schüttet beispielsweise Steinhaufen auf, modelliert Steilwände, die durch Sprengungen entstanden sind und trägt stellenweise Kultursubstrat auf. Solche Sekundärhabitate an Stelle von Primärnatur erreichen jedoch nie die originale Artenzusammensetzung. Gleichzeitig verändern die schweren Eingriffe das unterirdische Wasserreservoir und die Gesteinsschichtungen; infolge der veränderten Hydrogeologie versiegen Quellen und Bäche, verschwindet das Wasser aus Erdfällen und Schlucklöchern.

Sind Gips, Dolomit und Anhydrit erst einmal abgebaggert, sind sie für immer verschwunden – eine Kompensation ist unmöglich, die Zerstörung des Ökosystems und damit der so kostbaren Naturschutz- und FFH-Gebiete, ist irreversibel.

Viertens: Recycling wird sabotiert.

Schon vor Jahren warnte das Umweltbundesamt (UBA), dass die Deponien in Deutschland an ihre Grenzen kommen. Neben Industrieabfällen, Restmüll, Straßenaufbruch, Boden und Steinen werden viele gipshaltige Baustoffe deponiert. 2015 landeten in Deutschland etwa 210.000 Tonnen Gipskartonplatten als Baustoffreste auf Deponien – andere gipshaltige Abfälle hier nicht mitgezählt. Für das Jahr 2030 wird je nach Quelle ein Anstieg zwischen 550.000 und 670.000 Tonnen Gipskartonmüll prognostiziert. Marginale fünf Prozent davon werden recycelt, 95 Prozent verstopfen die Deponien oder werden anderweitig verscharrt.

Fehlende gesetzliche Zwänge und Billigstpreise für das Deponieren untergraben von Anfang an jeden Recycling-Gedanken. Dabei ist Gips praktisch unbegrenzt recycelbar – ohne Qualitätsverlust.

Lesen Sie auch

Wie Olaf Lies (SPD) die Zerstörung des Gipskarstes in Südniedersachsen tolerierte | Pugnalom

BUND Westharz unterzeichnete 2014 brisante Gipsabbau-Vereinbarung bis 2090 | Pugnalom


Entdecke mehr von Pugnalom

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Autoren-Avatar
LabNews Media LLC
LabNews: Biotech. Digital Health. Life Sciences. Pugnalom: Environmental News. Nature Conservation. Climate Change. augenauf.blog: Wir beobachten Missstände

Kommentar verfassen