Naturwissenschaftliche und naturwissenschaftsdidaktische Gesellschaften äußern sich in einer Stellungnahme kritisch zu einem möglichen „Verbundfach Naturwissenschaften“, das perspektivisch den Fachunterricht in Biologie, Chemie und Physik in der Sekundarstufe I ersetzen könnte. Diese Option war von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Prüfung empfohlen worden. Die Gesellschaften befürworten stattdessen ein „Kooperationsmodell Naturwissenschaften“. Ein „Verbundfach“ kann schnell auf ein bildungspolitisches Sparmodell reduziert werden.

Hintergrund für die gemeinsame Stellungnahme bildet das SWK-Gutachten „Kompetenzen für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung sichern“ vom April 2025. Das Gutachten enthält neben weiteren Ansätzen auch die Idee eines „Verbundfaches Naturwissenschaften“ (Empfehlung 10.5).
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lehnen die beteiligten Gesellschaften ein „Verbundfach Naturwissenschaften“ aus fachlicher, fachdidaktischer sowie bildungspolitischer Perspektive ab. Sie begründen dies unter anderem damit, dass die Einführung eines solchen Faches die fachliche Tiefe der Einzelfächer und den systematischen Kompetenzaufbau gefährden würde.
Schon heute ist der naturwissenschaftliche Unterricht häufig von fachfremdem Einsatz der Lehrkräfte geprägt. Die Einführung eines „Verbundfaches Naturwissenschaften“ würde diesen Zustand verschärfen. Bislang existiert auch keine belastbare Datenlage, die zeigt, dass ein „Verbundfach Naturwissenschaften“ einen kohärenteren Kompetenzaufbau oder bessere Lernleistungen zur Folge hätte. Vor diesem Hintergrund sehen die Verfasserinnen und Verfasser die Gefahr, ein „Verbundfach Naturwissenschaften“ könnte zu einem bildungspolitischen Sparmodell reduziert werden.
Die Gesellschaften sprechen sich für den Erhalt und eine engere Kooperation der Einzelfächer, Biologie, Chemie und Physik mit ihren jeweiligen fachlichen Profilen in der Sekundarstufe I aus. Dadurch können zentrale Anliegen des SWK-Gutachtens – etwa die stärkere Betrachtung gesellschaftlich relevanter Fragestellungen, forschend-entdeckendes Lernen, Inklusion oder sprachsensibler Fachunterricht – wirkungsvoll und qualitativ hochwertig weiterentwickelt werden.
Maßnahmen zur Entwicklung, Erprobung und Evaluation dieses Kooperationsmodells sollen länderübergreifend angelegt sein und bedürfen der Koordination ebenso wie ausreichender finanzieller Förderung.
Die Stellungnahme zum SWK-Gutachten „Kompetenzen für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung sichern“ wird getragen von folgenden Gesellschaften und Verbänden:
Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO)
und Fachsektion Didaktik der Biologie (FDdB) im VBIO
Fachgruppe Chemieunterricht (FGCU) der GDCh
und Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh)
Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG)
Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik (GDCP)
Originalpublikation
Kommentar
Die naturwissenschaftliche Bildung bildet das Fundament für eine aufgeklärte, zukunftsfähige Gesellschaft. Doch aktuelle Daten aus internationalen Vergleichsstudien, nationalen Erhebungen und wissenschaftlichen Analysen zeichnen bereits heute ein alarmierendes Bild: Der naturwissenschaftliche Wissensstand deutscher Kinder und Erwachsener sinkt, während gesellschaftsbedrohende Probleme wie Klimawandel, Artensterben und Umweltverschmutzung wachsen.
Bildungspolitik ist einer der Dreh- und Angelpunkte in der deutschen Politik: Bei jedem Regierungswechsel überschlagen sich die politischen Akteure mit Vorschlägen zu Neuerungen. Kultusminister und Regierungen nutzen das Thema gezielt zur Profilierung, denn Bildung wird als Schlüsselfaktor für gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit gilt. Das mag theoretisch auch so sein – die Realität allerdings sieht anders aus:
- Die frühkindliche Förderung ist mangelhaft. Bildungspläne, die Naturwissenschaften in Kindertagesstätten verankern sollen, gibt es viele, aber in der Praxis fehlt es sowohl an qualifiziertem als auch interessiertem Personal und naturnahen Lernumgebungen, um Kinder wirklich nachhaltig für Naturwissenschaften zu begeistern.
- PISA-Studien belegen den Abwärtstrend in Deutschland. Die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 zeigen, dass die naturwissenschaftlichen Kompetenzen deutscher 15-Jähriger mit 492 Punkten zwar noch leicht über dem OECD-Durchschnitt (485) liegen, aber seit 2018 deutlich gesunken sind. Besonders besorgniserregend: Der Anteil der Jugendlichen, die die Mindestanforderungen nicht erfüllen, ist von 20 Prozent auf 23 Prozent gestiegen. An nicht-gymnasialen Schulen liegt dieser Wert sogar bei 31,9 Prozent.
- Spitzenleistungen werden die Ausnahme. Der Anteil besonders leistungsstarker Schüler stagniert, während der Anteil der leistungsschwachen Kinder wächst. Die Kluft zwischen den Schulformen und sozialen Gruppen bleibt groß.
- Das Gros der Erwachsenen ist desinteressiert. Erwachsene interessiert nur das, was sie im Alltag benötigen. In anderen Bereichen zeigen Studien erhebliche Wissenslücken.
- Defizitäre Angebote in der Erwachsenenbildung. Naturwissenschaftliche Themen machen nur einen Bruchteil des Angebots in der Erwachsenenbildung aus – oft weniger als ein Prozent der Veranstaltungen und Unterrichtsstunden. Kompetenzen sind mangelhaft; entsprechend schlecht ist die Wissensvermittlung der Eltern an ihre Kinder.
- Deutsche Erwachsene schneiden in internationalen Vergleichen immer schlechter ab. Naturwissenschaftliches Grundlagenwissen ist kaum vorhanden. Die Defizite sind besonders gravierend, wenn es um ökologische Zusammenhänge, Artenvielfalt oder naturwissenschaftliche Prinzipien geht.
- Erwachsene wissen kaum mehr etwas über ihre Lebensumwelt. Der Verlust an Artenkenntnis geht Hand in Hand mit dem realen Rückgang der Biodiversität. In Deutschland sind mehr als die Hälfte der Lebensraumtypen in einem schlechten ökologischen Zustand, rund 10.000 Arten gelten als bestandsgefährdet. Das Bewusstsein für diese Krise ist in der Bevölkerung jedoch nur schwach ausgeprägt.
Dazu kommt, dass bereits heute der naturwissenschaftliche Unterricht in vielen Schulformen unterrepräsentiert ist. Lehrkräfte sind häufig nicht ausreichend qualifiziert; das Interesse oder die Zeit, forschendes Lernen und echte Naturerfahrung zu vermitteln, sind höchstens rudimentär vorhanden.
Ein weiteres erhebliches Problem ist die soziale Ungleichheit. Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialem Hintergrund: Kinder aus bildungsfernen Haushalten sind besonders benachteiligt. In Deutschland ist der Anteil der Minderjährigen, die in solchen Familien aufwachsen, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Während er 2011 noch bei 11,4 Prozent lag, kletterte er im Jahr 2021 schon bei 17,6 Prozent. Mehr als jedes zwanzigste Kind (5,5 Prozent) wächst sogar bei Eltern ohne jeglichen Schulabschluss auf. Die Zahl dieser Kinder ist zwischen 2011 und 2021 um fast 68 Prozent.
Deutschland verpasst es, Kinder und Erwachsene ausreichend auf eine naturwissenschaftlich geprägte Zukunft vorzubereiten. Die Wissensvermittlung ist lückenhaft, die Kompetenzen sind gering, und das Verständnis für ökologische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge ist besorgniserregend gering. Ohne eine grundlegende Reform der Bildungslandschaft droht Deutschland, den internationalen Anschluss zu verlieren. Es braucht eine entschlossene, breite Bildungsinitiative, die Naturwissenschaften und Ökologie in den Mittelpunkt stellt – von der Kita bis zur Erwachsenenbildung.
Quellen
Naturwissenschaftliche Bildung in der Kita
Naturwissenschaftliche Bildung in der frühen Kindheit | socialnet Lexikon
PISA-Studie: Die wichtigsten Ergebnisse und Reaktionen
PISA-Studie: sinkende Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften – TUM
Homepage – Stärkung der Basiskompetenzen dringend notwendig – BMFTR
Naturwissenschaften in der Erwachsenenbildung: was, wie und wozu vermitteln?
Artenvielfalt – „Faktencheck Artenvielfalt“: Arten in Deutschland schwinden – Wissen – SZ.de
Welche Politik führt zu besserer Bildung? – Wirtschaftsdienst
Deutscher Bundestag – Bestandsaufnahme zur Bildungspolitik im Bundestag
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