In Osterode am Harz, Landkreis Göttingen, wurde erneut gegen das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) § 39 verstoßen: Eine etwa 4.100 qm große Fläche zwischen der Seesener Straße und der Schachtruppvilla wurde komplett entbuscht. § 39 des Bundesnaturschutzgesetzes untersagt es, Hecken, lebende Zäune, Gebüsche und andere Gehölze zwischen dem 1. März und dem 30. September stark zurückzuschneiden oder zu fällen.

Die Radikalmaßnahme dürfte einige Bruthabitate zerstört haben, denn zahlreiche heimische Vogelarten wie Heckenbraunelle (Prunella modularis), Rotkehlchen (Erithacus rubecula), Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla), Sperbergrasmücke (Sylvia nisoria) oder Feldschwirl (Locustella naevia) ziehen derzeit ihre zweite Brut auf. Sie profitieren von Sträuchern wie Weißdorn, Schwarzer Holunder, Schlehe, Wildrosen und Haselnuss; auch verwilderte, mit Ackerbrombeeren, Efeu oder Gewöhnlicher Waldrebe überwachsene Bereiche werden gerne angenommen. Nach der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands 2021 und europäischem Artenschutzrecht sind alle europäischen Vogelarten besonders geschützt.
Nicht nur Vögel sind von dem brutalen Eingriff betroffen. Von den 8.127 geprüften phytophagen Insektenarten in Deutschland sind 3.140 Arten (38,6 Prozent) auf Gehölze als Nahrungspflanzen angewiesen. Mit rund 89 Prozent spielen heimische Gehölze dabei die Hauptrolle. Gerade im städtischen Raum Osterodes sind entsprechende Areale rar gesät und müssten entsprechend rücksichtsvoll behandelt werden: Die Rote Liste der Insekten stuft 42 Prozent der bewerteten Insektenarten als bestandsgefährdet, extrem selten oder bereits ausgestorben ein. Der Apollofalter (Parnassius apollo) beispielsweise nutzt niedrige Vegetation als Lebensraum, Libellen verschiedener Arten nutzen Gebüsche um Gewässer (in unmittelbarer Nähe befinden sich der Bach Apenke und der Pferdeteich), die Holzbiene nistet in markigen Stängeln, diverse Wildbienenarten sind auf blühende Gehölze und hohle Stängel als Nistraum zwingend angewiesen.
Ebenso wenig Rücksicht haben die Verantwortlichen auf die dort Unterschlupf und Nahrung suchenden Säugetiere genommen. Gartenschläfer (Eliomys quercinus) und Haselmaus (Muscardinus avellanarius) sind streng geschützt, der Bestand an Igeln (Erinaceus europaeus) nimmt in beängstigendem Ausmaß ab. Auch die in ihrem Bestand bedrohten Fledermäuse nutzen Gehölze als Jagdreviere, finden sie doch gerade entlang von Büschen und Bäumen mehr Insekten als anderswo.
Der Erhalt und die Förderung heimischer Gebüsche und Hecken im Siedlungsbereich sind essentiell für den Schutz der biologischen Vielfalt: Sie fungieren nicht nur als Lebensraum, sondern auch als Trittsteinbiotope und Wanderkorridore.
Das vorliegende Beispiel zeigt ein weiteres Mal, dass Bewusstsein und Basiswissen der Verantwortlichen und Ausführenden in Osterode bestenfalls marginal vorhanden sind. Solange solche Taten ungesühnt bleiben, wird sich daran nicht viel ändern. Dabei ist eine Ahndung durch ein differenziertes System von Bußgeldern und Strafen möglich; es erfüllt sowohl präventive als auch repressive Funktionen. Das Bundesnaturschutzgesetz sieht für verschiedene Arten von Naturschutzverstößen unterschiedliche Sanktionsrahmen vor, die von einfachen Verwarnungen bis hin zu mehrjährigen Freiheitsstrafen reichen können:
Ordnungswidrigkeiten nach § 69 Abs. 1 BNatSchG: Wer wissentlich entgegen § 39 Abs. 1 Nr. 1 ein wild lebendes Tier beunruhigt, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Diese kann mit einer Geldbuße von 5€ bis 50.000€ geahndet werden, wobei die Regelsätze zwischen 50€ und 10.000€ liegen.
Ordnungswidrigkeiten nach § 69 Abs. 3 BNatSchG: Die meisten Verstöße gegen § 39 BNatSchG fallen unter § 69 Abs. 3, der vorsätzliche oder fahrlässige Handlungen erfasst. Hierzu gehören:
- Das Fangen, Verletzen oder Töten wild lebender Tiere ohne vernünftigen Grund (Nr. 7)
- Das Entnehmen wild lebender Pflanzen ohne vernünftigen Grund (Nr. 8)
- Die Beeinträchtigung oder Zerstörung von Lebensstätten (Nr. 9)
- Das Entnahmen von Tieren und Pflanzen aus der Natur (Nr. 10)
- Das Abschneiden von Hecken und Gehölzen während der Sperrzeit vom 1. März bis 30. September (Nr. 13)
Schwerwiegendere Verstöße können als Straftaten verfolgt werden. § 71 BNatSchG sieht Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafen vor, wenn sich die Handlung auf streng geschützte Arten bezieht. Bei gewerbsmäßiger oder gewohnheitsmäßiger Begehung erhöht sich das Strafmaß von drei Monaten auf bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.
Dass überhaupt Strafen verhängt werden, ist aber eher die Ausnahme – gerade, wenn die Verantwortlichen in öffentlichen Verwaltungen zu finden sind.
Überhaupt sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: 2021 wurden lediglich 45 Personen bundesweit wegen Straftaten gegen das Bundesnaturschutzgesetz verurteilt. Ordnungswidrigkeiten werden dagegen nach wie vor eher als Kavaliersdelikt behandelt und nicht einmal systematisch erfasst – es gibt in Niedersachsen, wie im gesamten Bundesgebiet, keine zentrale, öffentlich zugängliche Statistik, die die Zahl der gemeldeten oder geahndeten Ordnungswidrigkeiten nach dem Bundesnaturschutzgesetz ausweist. Zersplitterte Zuständigkeiten sind die Hauptursache für dieses Dilemma. In Niedersachsen obliegt die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten gegen das Bundesnaturschutzgesetz den Unteren Naturschutzbehörden der Landkreise und kreisfreien Städte. Somit führt jeder Landkreis eigene Bußgeldakten; es besteht keine Verpflichtung zur digitalen Meldepflicht oder zur landesweiten Zusammenführung. Nicht zuletzt daran lässt sich ermessen, welch geringen Stellenwert Biodiversität und Artenschutz in der Praxis der Grünflächenpflege nach wie vor haben – allen offiziellen Beteuerungen von (Lokal-)Politikern um Trotz.
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