Trotz der wachsenden Bevölkerung und des zunehmenden Drucks auf ihre Lebensräume nimmt die Zahl der wild lebenden Tiger in Indien zu. Der Grund dafür ist eine Kombination aus der ökologischer Wiederherstellung von Lebensraum, wirtschaftlichen Initiativen und politischer Stabilität sowie einer tief verwurzelten Ehrfurcht vor Tigern. Gerade letzteres hat eine Kultur gefördert, in der Menschen und Raubtiere koexistieren können.

Wie schützt man eine gefährdete Art, wenn es sich bei dieser Art um einen Tiger handelt – ein Raubtier, das auch eine Bedrohung für den Menschen darstellt? Indien hat einen Weg gefunden, indem es geschützte Reservate mit Gebieten kombiniert, in denen Tiger und Menschen gemeinsam leben. Das Ergebnis ist ein Anstieg der Tigerpopulation um 30 % in den letzten zwei Jahrzehnten.
Einer neuen Studie zufolge leben in Indien heute etwa 3.700 Tiger, was 75 % des weltweiten Wildtigerbestands entspricht. Dies zeigt, dass es selbst im bevölkerungsreichsten Land der Welt möglich ist, große Raubtiere zu schützen.
Indiens Strategie zum Schutz der Tiger kombiniert zwei Ansätze: Einige Gebiete sind streng geschützte Reservate, während andere Landschaften sind, die von Menschen und Tigern gemeinsam genutzt werden. „Der Vorteil der Kombination dieser beiden Methoden besteht darin, dass die Reservate als Quelle für die Tiger in den umliegenden Gebieten dienen. Und wenn die Koexistenz nicht mehr funktioniert, bieten die Reservate eine Ausweichmöglichkeit, die sicherstellt, dass die Tiger nicht vom Aussterben bedroht sind“, erläutert Ninad Mungi, Assistenzprofessor an der Universität Aarhus und Mitautor der Studie. Heute werden 45 % der von Tigern bewohnten Landschaften Indiens von rund 60 Millionen Menschen genutzt.
Den Forschern zufolge ist nicht allein die menschliche Bevölkerungsdichte ausschlaggebend dafür, ob Tiger gedeihen können. Vielmehr sind es der Lebensstil, die wirtschaftlichen Bedingungen und die kulturellen Einstellungen der Menschen, die ihre Bereitschaft beeinflussen, den Lebensraum mit großen Raubtieren zu teilen.
In relativ wohlhabenden Regionen, in denen Ökotourismus und staatliche Entschädigungsregelungen für Einkommen sorgen, ist die Toleranz gegenüber Tigern viel größer. Für einige indische Bauern bedeutet der Verlust von Vieh an einen Tiger nicht unbedingt eine Katastrophe. Landwirte, die ihr Vieh in Ställen und Gehegen halten, sind selten von Tigern betroffen. Wird jedoch Vieh in von Tigern bewohnten Gebieten zum Weiden freigelassen und von einem Tiger gefressen, erhält der Landwirt eine finanzielle Entschädigung von der Regierung, so dass aus einem Verlust ein Gewinn wird.
Die Studie zeigt, dass die Tigerpopulationen am schnellsten in Gebieten wachsen, die:
- in der Nähe von Tigerreservaten liegen
- über reichlich Beute und geeignete Lebensräume verfügen
- eine relativ geringe menschliche Bevölkerungsdichte aufweisen
- einen moderaten wirtschaftlichen Wohlstand genießen
In ländlichen Gebieten mit extremer Armut, in denen viele Menschen auf die Wälder angewiesen sind, um Nahrung, Brennholz und andere Ressourcen zu beschaffen, sind die Tigerpopulationen jedoch nach wie vor gering.
„In der Vergangenheit war die Nahrungssuche im Wald nachhaltig. Aber jetzt, wo es mehr Menschen und weniger Platz für Tiger gibt, nehmen die Konflikte zu“, sagt Ninad Mungi. Auch in Regionen, die von bewaffneten Konflikten betroffen sind, gebe es kaum noch Tiger. „Unsere Studie zeigt, dass fast die Hälfte der Gebiete, in denen Tiger verschwunden sind, in Distrikten liegen, die vom Naxal-Konflikt betroffen sind“, so Ninad Mungi. Wenn die effektive Regierungsführung durch Konflikte geschwächt wird, steigt das Risiko der Wilderei und der Zerstörung von Lebensräumen – ein großes Problem für den Tigerschutz.
Obwohl die Vorstellung, Tiger in der Nähe zu haben, beunruhigend erscheinen mag, sind Angriffe auf Menschen selten. Im Durchschnitt werden in Indien jedes Jahr etwa 100 Menschen von Tigern getötet.
Und für den Fall, dass das Schlimmste passiert, gibt es ein Sicherheitsnetz:
„Wenn ein Mensch von einem Tiger getötet wird, erhält seine Familie eine finanzielle Entschädigung von der Regierung“, erklärt Ninad Mungi. Wenn ein Tiger die Angewohnheit entwickelt, Menschen anzugreifen, fangen die Verantwortlichen ihn ein und bringen ihn in ein Reservat oder einen Zoo.
Indiens Modell könnte über seine Grenzen hinaus wertvolle Erkenntnisse liefern. In Europa haben viele Länder mit Wolfsangriffen auf Nutztiere zu kämpfen, und die Erfahrungen Indiens könnten zu neuen Ansätzen inspirieren, die sowohl die Tierwelt als auch die Lebensgrundlage der Landwirte schützen.
Ninad Mungi zufolge haben Indien und Europa einige Gemeinsamkeiten, wenn es um den Schutz von Großraubtieren geht. „Sowohl in Indien als auch in Europa sind die Schutzgebiete klein – nur 200 bis 300 km² – und nur ein kleiner Teil davon ist für den Menschen tabu. In Europa und Nordamerika wird darüber diskutiert, ob man sich ausschließlich auf Schutzgebiete für Wildtiere konzentrieren sollte. Solche unantastbaren Gebiete, in denen große Raubtiere von jeglicher menschlichen Kontrolle abgeschirmt sind, sind von entscheidender Bedeutung. Aber ein erheblicher Gewinn kann erzielt werden, wenn man einen Schritt weiter geht und eine Kultur der Koexistenz jenseits der Schutzgebiete fördert. Indien bietet mit der Integration gemeinsamer Landschaften eine Alternative“, sagt er.
„Natürlich gibt es kulturelle Herausforderungen, aber die Kultur kann sich mit der Zeit ändern. Die Erfahrung Indiens beweist, dass große Raubtiere in einer modernen Welt überleben können – wenn wir bereit sind, kreativ zu denken und ein Gleichgewicht zwischen Schutz und Koexistenz zu finden.“
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